Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Naturkatastrophe in Europa: Im Bann der Hitze

Foto: Martin_Gerten/ picture-alliance / dpa/dpaweb

Hitze-Jahr 1540 Wetterdaten enthüllen Europas größte Naturkatastrophe

Elf Monate kaum Regen und Extremhitze: Mehr als 300 Chroniken aus ganz Europa enthüllen die grausamen Details einer gigantischen Katastrophe im Jahr 1540. Und sie zeigen: Das Desaster kann sich wiederholen.

Hamburg - Nichts hatte die Katastrophe angedeutet. Das Klima hatte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts erholt, milde und regenreiche Jahrzehnte ließen in Europa meist üppige Ernten gedeihen, die Bevölkerung mehrte sich rapide. Medizin, Kunst und Wissenschaft erblühten, die Renaissance hielt endlich auch nördlich der Alpen Einzug.

Das Jahr 1539 verabschiedete sich mit stürmischem, mildem Westwind. Es regnete viel im Dezember, die Leute flüchteten in ihre Häuser. Sie ahnten nicht, wie kostbar der Niederschlag in Kürze werden sollte.

Im Januar 1540 begann eine Trockenphase, wie sie Mitteleuropa seit Menschengedenken nicht erlebt hat, berichten nun Wissenschaftler, die ein riesiges Archiv an Wetterdaten heben konnten. Elf Monate fiel kaum Niederschlag, die Forscher sprechen von einer "Megadürre".

Das Jahr brach alle Rekorde: Entgegen bisheriger Einschätzung von Klimaforschern ist nicht der Sommer 2003 der heißeste bekannte - 1540 habe ihn bei Weitem übertroffen, schreibt die internationale Forschergruppe um Oliver Wetter von der Universität Bern im Fachblatt "Climate Change" .

Das Vorspiel

Klimamodelle können solch extreme Phasen der Witterung nicht darstellen, haben die Experten entdeckt. Auch die Jahresringe von Bäumen fallen als Indikatoren aus - denn Hitzestress stoppe das Pflanzenwachstum. Das 32-köpfige Forscherteam hat nun aber erstmals Daten aus mehr als 300 Chroniken aus ganz Europa zusammengeführt, etwa Aufzeichnungen von Landwirten, Kirchen oder Schleusenwärtern - sie enthüllen Europas größte Naturkatastrophe.

Dass das Jahrtausenddesaster bereits 1539 Schwung aufnahm, blieb nördlich der Alpen unbemerkt. In Spanien hielten die Menschen seit Oktober Bittprozessionen für Regen ab. Und im Winter war es in Italien trocken und warm "wie im Juli", heißt es in einer Wetterchronik. Heute wissen Meteorologen, dass Trockenheit im Süden oft Vorbote für andauernde Hitze im Norden des Kontinents ist.

Anzeige

Axel Bojanowski:
Die Erde hat ein Leck

und andere rätselhafte Phänomene unseres Planeten.

DVA; 192 Seiten; 16,99 Euro.

Bei Amazon bestellen: Axel Bojanowski: Die Erde hat ein Leck Buch bei Thalia: Axel Bojanowski - "Die Erde hat ein Leck" 

Im Januar kam die Trockenheit noch gelegen, weder Eis noch Schnee beeinträchtigen das Alltagsleben. Doch eine fatale meteorologische Zweiteilung festigte sich: Während Russland im Frühjahr über anhaltenden Schnee und Regenfluten klagte, wunderten sich die Mitteleuropäer über fortwährenden Sonnenschein und sternenklare Nächte. "Es regnete nur mal drei Tage im März", notierte der Winzer Hans Stolz im Elsass.

Kollaps am Weinberg

Der Boden trocknete aus, er brach vielerorts wie Knäckebrot. Risse waren so tief, dass Leute ihre Füße darin baumeln lassen konnten, heißt es in einer Chronik. Was trockener Boden auslösen kann, ist seit 2003 allseits bekannt: Weil kein Wasser verdunsten kann, wobei Wärme verbraucht würde, heizt sich die Luft weiter auf. "Diese Rückkopplung hat die Hitzewelle 1540 stabilisiert", berichtet Sonia Seneviratne von der ETH Zürich.

Das Sonnenwetter führte in Mitteleuropa zur Katastrophe. Mindestens dreimal so viele Tage wie üblich waren 1540 mehr als 30 Grad heiß. Als Erste traf es die Tiere, viele verdursteten oder starben an Hitzschlag. Unzählige Menschen brachen bei der Arbeit auf Feldern oder in Weinbergen zusammen. Spannungen verschärften sich zu Verfolgungen und Hinrichtungen. Menschen verbarrikadierten sich aus Angst vor Gewalt. Die Gesamtzahl der Toten bleibe unklar, sagt Rüdiger Glaser von der Uni Freiburg.

Ein Vergleich lässt Schlimmes erahnen: Im Hitzesommer 2003 starben trotz moderner Zivilisation in Mitteleuropa schätzungsweise 70.000 Menschen aufgrund der Witterung. Die Hitze von 2003 galt bislang als Folge der teils menschengemachten Klimaerwärmung. Doch so einfach ist es wohl nicht: Dass es 1540 ohne den künstlich verstärkten Treibhauseffekt zu einer noch schlimmeren Hitze gekommen sei, relativiere die Beurteilung des menschlichen Einflusses auf das Wetter 2003, sagt Glaser.

Zu Fuß durch den Rhein

Immer verzweifelter suchten die Menschen nach Trinkwasser im Sommer 1540. Selbst anderthalb Meter unter manchem Flussbett in der Schweiz fand sich "kein Tropfen", wie der Chronist Hans Salat notierte. Brunnen und Quellen, die nie zuvor trocken gefallen waren, lagen brach. Die anderen wurden streng bewacht, ausgeschenkt wurde nur beim Glockenschlag. Verunreinigtes Wasser ließ Tausende an Ruhr sterben, einer Entzündung des Dickdarms.

Der Pegel des Bodensees sank so weit ab, dass die Insel Lindau im Sommer 1540 mit dem Festland verbunden war, was sonst höchstens mal im Winter geschieht, wenn der Niederschlag in den Bergen als Schnee liegen bleibt und verzögert in den See fließt. "Der See war so klein", wunderten sich Chronisten.

Bäche trockneten aus, Flüsse wurden immer schmaler. Selbst große Ströme wie Elbe, Rhein und Seine "waren so klein, dass man zu Fuß durchging", notierten Zeitzeugen. Während durch die Elbe im sogenannten Jahrhundertsommer 2003 noch etwa die Hälfte der üblichen Wassermenge geflossen sei, wäre es 1540 noch gerade mal ein Zehntel gewesen. "Ein Rekordereignis", konstatieren die Forscher.

Europa in Rauch verhüllt

Keinen ganzen Tag Regen habe es gegeben zwischen Februar und Ende September, schrieb ein Heinrich Bullinger 1540 in Zürich. In Franken registrierten Landwirte bis August nur an 19 Tagen Regentropfen. Übers ganze Jahr 1540 habe es im mitteleuropäischen Durchschnitt gerade mal ein Drittel so viel Niederschlag gegeben wie üblich, berichtet Christian Pfister von der Universität Bern. "Den ersten längeren Guss gab es erst wieder 1541."

Die Ernte verdorrte. "Preise für Mehl und Brot gingen durch die Decke", schreiben die Wissenschaftler. Bereits Anfang August verloren die Bäume ihre staubtrockenen Blätter, "als ob schon Herbst wäre", protokollierte ein Chronist aus Ulm.

Dann kam das Feuer. Der trockene Boden entzündete sich, Wald- und Buschbrände loderten übers Land - und sie krochen in die mit Fachwerkhäuschen eng bebauten Städte. Mehr Gemeinden als je sonst zu Friedenszeiten im vergangenen Jahrtausend wurden von Flammen zerstört, berichtet Pfister. Wochenlang verhüllte grauer Rauch den Kontinent, hinter dem Sonne und Mond als blassrote Schimmer fast verschwanden.

Was passiert, wenn es sich wiederholt?

Was passiert, wenn sich das Wetter von 1540 wiederholt? "Die Folgen wären dramatisch", warnt Pfister. Ein Massensterben von Tieren sei zu erwarten, Kühlwasser für Atomkraftwerke würde knapp, der Warentransport über Flüsse käme großteils zum Erliegen, und über die Folgen für die menschliche Gesundheit lasse sich nur spekulieren.

"Die Katastrophe von 1540 sollte eine Mahnung sein, was geschehen kann", sagt Pfister. Niemand sei vorbereitet auf solch einen Extremfall. "Ich hoffe, wir müssen so etwas nie erleben." Der menschengemachte Treibhauseffekt erhöhe allerdings die Wahrscheinlichkeit für schlimme Hitzewellen, gibt Glaser zu bedenken.

Ob rechtzeitig gewarnt werden könnte, bleibt fraglich - die Ursachen sind weitgehend unklar: Über die Wetterentwicklung von 1540 lasse sich allenfalls spekulieren, sagt Sonia Seneviratne. Selbst eine frühjährliche Dürre eigne sich nur bedingt als Indikator: 2011 fiel der Frühling in Mitteleuropa ähnlich trocken aus wie 2003, ohne dass sich die Dürre in den Sommer gezogen hätte.

Der Jahrtausendwein

Einen einzigen Trost gab es für die Katastrophe von 1540. Die Hitze schuf einen Jahrtausendwein mit extrem hohem Zuckergehalt - "er sieht im Glas aus wie Gold", schwärmte ein Chronist. Schweden, die 1631 Würzburg besetzten, fahndeten vergeblich nach dem Wein - die Fässer waren vorsorglich eingemauert worden. Noch im 19. Jahrhundert ersteigerte ein englischer Händler einige Fässer.

Letzte Flaschen liegen heute im Weinmuseum in Speyer. In den Sechzigerjahren kosteten Auserwählte das Getränk. Es seien erhabene Momente gewesen, berichtet Rüdiger Glaser: Für einen Augenblick habe der Wein auf den Zungen den "einmaligen Spirit" erahnen lassen. Dann zerfiel er zu Essig.

Dem Autor auf Twitter folgen: